Bernd Hüttner, Archive von unten. Bibliotheken und Archive der neuen sozialen Bewegungen und ihre Bestände, Neu-Ulm (AG SPAK Bücher) 2003, 177 S., 15,- Euro

 

Die einst „neuen“ sozialen Bewegungen sind in die Jahre gekommen und damit auch ihre Hinterlassenschaften von Flugblättern über Zeitschriften und Broschüren bis hin zu Zeitungsausschnittsammlungen oder Plakaten. Gesammelt und aufbewahrt wurden diese Materialen von zahlreichen kleineren Archiven, die meist enge Verbindungen zu den jeweiligen Bewegungen aufwiesen und damit einen herrschaftskritischen Blick von unten garantierten. Einige dieser Archive haben inzwischen eine beachtliche Größe und einen professionellen Status erreicht.

Die „klassischen“ neuen sozialen Bewegungen haben ihre spektakulären Zeiten hinter sich gelassen. Obwohl viele der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, die sie angestoßen haben, keineswegs als politisch abgeschlossen betrachtet werden können, arbeitet die Geschichtswissenschaft schon eifrig an der Historisierung dieser Bewegungen. Einen deutlichen Schub erhielt die historische Aufarbeitung in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, anlässlich des 20. Jahrestages des „deutschen Herbstes“ sowie des 30. Jahrestages von „1968“. Im Zuge der Entwicklung lässt sich auch bei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die den Protestbewegungen der 1970er und 1980er Jahre nicht nahe standen ein stärkeres Interesse beobachten. In den staatlichen Archiven, die Dokumente der neuen sozialen Bewegungen nur vereinzelt und unter dem Blickwinkel staatlicher Institutionen aufbewahrt und kategorisiert haben, zeichnet sich ebenfalls ein Umdenken ab.

Ein Überblick über die Anzahl und Aktivitäten alternativer Archive ist selbst Eingeweihten kaum noch möglich. Mangelnde Kontinuität und wenig institutionelle Absicherung gehören zu den Charakteristika dieser Einrichtungen. Den ersten und letzten Versuch, diese differenzierte Archivlandschaft zu erfassen, legte das ID-Archiv in Amsterdam 1990 mit dem „Reader der ‚anderen’ Archive“ vor. Heute besitzt dieser Band kaum mehr als historischen Wert.

Bernd Hüttner – selbst Gründer eines solchen Archivs in Bremen – kommt das Verdienst zu, in mühevoller Kleinarbeit nun eine neue Übersicht zusammengestellt zu haben. Präsentiert werden aktuelle Adressen und weiterführende Informationen zu 276 Archiven und Bibliotheken, überwiegend aus dem deutschsprachigen Raum.

Der Archivführer versucht, der unterschiedlichen Qualität und Größe der jeweiligen Einrichtung gerecht zu werden. Zu den bedeutenden themenübergreifenden Archiven finden sich ausführliche Beschreibungen der Bestände mit Angaben zu technischer Ausstattung und Dienstleistungsangeboten. Dazu gehört auch die für intensivere Forschungen relevante Frage nach Art und Umfang der Erschließung des Materials. Die kleineren Archive werden mit Adresse nach Postleitzahlen regional geordnet aufgelistet. Der Verweis auf eine Präsenz im Internet ermöglicht dann den raschen Zugang zu weiteren Informationen.

Mit Hilfe dieser Einteilung ist es leichter, die Bedeutung der jeweiligen Sammlungen einzuschätzen. Die Übersicht erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Es kann jedoch davon ausgegangenen werden, dass der überwiegende Teil der aktiven Einrichtungen erfasst wurde.

Wichtige Archive zu bestimmten Schwerpunkten werden gesondert aufgeführt. Die Zuordnung erfolgt auf der Grundlage ihrer Entstehungsgeschichte. Die Bezeichnungen sind sehr allgemein gehalten (Antifaschismus, Ökologie, Internationalismus …), da eine eindeutige thematische Abgrenzung nur bei den wenigsten Archiven möglich ist. Gesondert aufgeführt werden auch feministische Archive, Einrichtungen der Bürgerbewegung der DDR oder Archive einzelner Parteien.

Der Archivführer versteht sich als Leitfaden für die Praxis und richtet sich damit auch an einen nicht akademisch geprägten Personenkreis. Am Ende des Buches gibt es einige Tipps für die Recherche sowie Hinweise für den Aufbau und die Struktur von Archiven. Darüber hinaus werden ausgewählte Publikationen, Zeitschriften, Netzwerke und Internetadressen angeführt und kommentiert, die die Erschließung weiterer Informationsquellen erleichtern.

Vorteilhaft für die Suche nach bestimmten Dokumenten sind das Ortsregister und das Archivregister am Ende des Bandes. Ein Sachregister fehlt allerdings. Wer also gezielte Information zu speziellen Ereignissen und Bewegungen oder zu einer bestimmten Zeitschrift sucht, wird nicht automatisch auf das geeignete Archiv stoßen. Letztlich wird ein bestimmtes Maß an Hintergrundwissen über die Entstehung der Bewegungen und ihrer Archive für eine effektive Nutzung dieses Handbuchs vorausgesetzt. Auch die recht unterschiedlichen Selbstdarstellungen der Archive erlauben häufig nur eine grobe Einordnung ihrer Bestände.

Bernd Hüttner versucht am Ende des Bandes einige Einschätzungen über die aktuelle Lage alternativer Archive und Bibliotheken zu geben, etwa zur finanziellen und personellen Ausstattung, zum Stand der Vernetzung oder zur Öffentlichkeitsarbeit. Die dargestellten Probleme und Konflikte sind keineswegs neu. Erinnert sei in diesem Zusammenhang an das 1993 erschienene Archiv-Themenheft von WerkstattGeschichte. Viele der damals angesprochenen Fragen nach Datenschutz oder rechtlichen Grundlagen sind heute weiterhin ungeklärt und werden in den nächsten Jahren an Bedeutung gewinnen. Dazu gehört auch die perspektivische Überlegung, in welchem Rahmen die Dokumente nach der Ablösung der Archive von ihren bewegten Entstehungszusammenhängen langfristig für eine herrschaftskritische Geschichtsschreibung bewahrt und einem größeren Publikum zugänglich gemacht werden können. Es wäre zu wünschen, dass dieses Handbuch die öffentliche Wahrnehmung der alternativen Archive verbessert und einen Anstoß zur Diskussion über den weiteren Umgang mit diesen Zeugnissen vergangener politischer Aktivitäten geben wird.

Eckart Schörle (Erfurt)

erschienen in: WerkstattGeschichte 36/2004, S. 117-119.