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Rezension

Zwischen Aktion und Resignation. Flüchtlinge und Initiativgruppen im Widerstand gegen Abschiebungen

Claus Melter, Zwischen Aktion und Resignation. Flüchtlinge und Initiativgruppen im Widerstand gegen Abschiebungen, Karlsruhe: von Loeper Literaturverlag, Karlsruhe 2000, 200 Seiten, 29,80 DM

Melter unterbreitet mit seiner für den Druck überarbeiteten Diplomarbeit einen sehr lesenswerten Überblick über das politische und soziale Wirken von antirassistischen Initiativgruppen im Deutschland der 1990er Jahre. Mit dem Band liegt nach "Antirassistische Identitäten in Bewegung" von Sabine Hess und Andreas Linder (Tübingen 1997) eine weitere fundierte Untersuchung zu den Binnenstrukturen der antirassistischen Bewegung vor. Hess/Linder hatten durch zahlreiche Interviews das Selbstverständnis und die Biografie von "humanistischen", feministischen und autonomen AktivistInnen untersucht, während bei Melter die Reflexion der Praxis im Vordergrund steht.
Zuerst skizziert Melter die Grundzüge der europäisierten Abschottungspolitik gegen Flüchtlinge: Abschreckung nach außen und Diskriminierung nach innen. Im Zuge der Abschaffung einschlägiger Regelungen 1993 kommt es mittlerweile zu einer vermehrten Illegalisierung von MigrantInnen und Flüchtlingen: Eingereiste stellen erst gar keinen Asylantrag und abgelehnte Flüchtlinge tauchen in die Illegalität ab. Im zweiten und dritten Kapitel folgt ein Überblick über die Geschichte des bundesdeutschen Asyl- und AusländerInnenrechts und die Organisation der Abschiebepraxis. Diese Teile bieten einen Überblick über die staatlichen Maßnahmen zur institutionellen Einhegung von Flüchtlingen, während Kapitel vier den öffentlich meist wenig bekannt werdenden Widerstand von Flüchtlingen gegen Abschiebung und Rassismus dokumentiert. Nach diesen als Einleitung zum weiteren Verständnis des Hauptteils unumgänglichen Kapiteln analysiert Melter dann ausführlich die "Konzepte, Erfahrungen und Perspektiven von Initiativgruppen, die gegen Abschiebungen Widerstand leisten" (S. 82). Er untersucht, unter anderem durch Interviews, Gruppen aus Oldenburg, Bremen, Kassel, Tübingen und Köln (die meist zu Beginn der 90er Jahre gegründet wurden) sowie die erst kurz vor dem Abschluss der Untersuchung gegründete bundesweite Kampagne "kein mensch ist illegal". Alle sind - in Absetzung zum bürgerlich-humanitären - dem Spektrum der feministischen oder autonomen Gruppen zuzuordnen. Bei vielen zeitigt die Arbeit nur einen bescheidenen Erfolg. Die vielfältigen Belastungen der Unterstützungsarbeit verursachen eine hohe personelle Fluktuation, die politische Kontinuität erschwert. Nicht zuletzt leiden die Gruppen, die durchweg ehrenamtlich arbeiten, an akutem Geldmangel. Gleichzeitig ist aber auch klar, dass viele radikalere Flüchtlingsinitiativen den Teil von Flüchtlingssozialarbeit übernehmen, den die konventionelle nicht mehr leistet: die Arbeit mit illegalisierten Flüchtlingen und MigrantInnen. Die Darstellung von Melter endet leider Mitte 1998, der reflektierte Zeitraum ist vor allem der der ersten Hälfte der 90er Jahre; viele, wie man heute weiss berechtigte Hoffnungen, setzen nahezu alle Gruppen in die Kampagne "kein mensch ist illegal".
Im Fokus des Agierens der meisten Gruppen steht jenseits der unterstützen Flüchtlinge der Staat ("Abschiebemaschinerie"), da jener das exekutierende Organ und dadurch der Gegner der beschriebenen Gruppen ist. Die antirassistischen Gruppen leisten zwar vielfältige Öffentlichkeitsarbeit, die mühsame Auseinandersetzung mit dem rassistischen Normalzustand in der Bevölkerung suchen sie unter anderem wegen ihrer Arbeitsüberlastung aber kaum. Eine breitere politische Bündnispolitik ist nur bei einer Beschränkung auf die humanitären Aspekte von einzelnen, von Abschiebung bedrohten Flüchtlingen möglich. Radikalere Kritik an Staat und Bevölkerung oder eine Sichtweise, die Flüchtlinge nicht als Opfer darstellt, ist nicht vermittelbar. Eine durchdachte Strategie zu Öffentlichkeitsarbeit, Zielgruppen und Kommunikation gibt es bei den Gruppen nicht. Hier sieht Melter berechtigterweise einen wichtigen Ansatzpunkt für die Verbesserung der politischen Arbeit der Solidaritätsgruppen, zeigt doch die Erfahrung u.a. von "kein mensch ist illegal" dass die Wirksamkeit antirassistischer Arbeit nicht unwesentlich von einer durchdachten Öffentlichkeitsarbeit und Bündnispolitik abhängt.

Bernd Hüttner

Erschienen u.a. in Contraste vom Oktober 2001 und in 1999. Zeitschrift für Sozialgeschichte Heft 1/2002.

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