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41 Prozent aller Bewegungsarchive befinden sich in nur zehn Städten
Wo gibt es Archive sozialer Bewegungen - ein Nachtrag


von Bernd Hüttner

Im seit letzten Jahr vorliegenden neuen Verzeichnis von Archiven sozialer Bewegungen wurden insgesamt 276 alternative Archive und Bibliotheken nachgewiesen (1). Die Szene dieser Archive ist schwer zu überschauen, da sich immer wieder Archive neu gründen und andere auflösen, deshalb kann ein solches Verzeichnis nicht vollständig sein. Hinzu kommen Abgrenzungsprobleme: Was ist überhaupt ein "Archiv sozialer Bewegungen", welche Einrichtungen sind also aufzunehmen?
In dem Buch ist ein Orts- und Namensregister enthalten. Diese wurden erst anhand der Daten des Buchmanuskriptes durch den Verlag erstellt, konnten also noch nicht in die Auswertung einer Umfrage zum Stand der Dinge unter den alternativen Archive aufgenommen werden (2). Jetzt kann eine kurze Analyse der geographischen Verteilung und der Ballung von solchen Archiven und Bibliotheken versucht werden.
In Berlin gibt es, wenn mensch die im Archivreader aufgeführten Projekte zur Grundlage nimmt, 37 Archive, in Hamburg 19, in Köln neun, in München, Dresden und Dortmund je acht, in Bremen und Wien sieben, in Leipzig und Zürich sechs und in Münster und Frankfurt fünf. Im Buch sind für Köln acht Archive verzeichnet, eines davon ist jedoch die virtuelle Datenbank des deutschsprachigen Anarchismus. Für Köln - und damit sind wir bei den Korrekturen - neu hinzuzufügen ist das KölnArchiv (3). Für Münster sind im Buch sechs Archive genannt, darunter ein sehr kleines Schwulenarchiv, das deshalb in der Analyse nicht weiter berücksichtigt wird.
Unter diesen Prämissen ergibt sich eine Gesamtsumme von 277 nachgewiesenen Archiven (und Bibliotheken) unterschiedlichster Thematik und Größe. Darunter sind 123 Archive, die in Städten ansässig sind, in denen es zwischen fünf und 37 Archiven sozialer Bewegungen gibt. Mit anderen Worten sind allein 13 Prozent aller Archive in Berlin zu finden, bzw. ca. 44 Prozent der nachgewiesenen Archive und Bibliotheken auf nur zwölf Städte (darunter zehn in der BRD) verteilt, oder ca. 41 Prozent aller Archive in den nur zehn Städten mit sechs und mehr Archiven.
Richtet mensch den Fokus nun auf Deutschland, fällt das absolute Übergewicht von Berlin ins Auge, das mit 37 (!) Archiven sozialer Bewegungen eine wichtige Rolle in der Überlieferung von Dokumenten und Debatten sozialer Bewegungen beweist. Berlin und Hamburg (17 Archive) sind auch die beiden Bundesländer bzw. Stadtstaaten, in denen es in der Anfangsphase der grünen Partei der alten Bundesrepublik mit der Alternativen Liste für Umweltschutz und Demokratie (Berlin) bzw. der Grün-Alternativen Liste (GAL) zwei "grüne" Landesverbände gab, die nicht direkt Teil der Bundespartei und lange Zeit links von ihr standen.
Im Mittelfeld dieses Ranking liegen nun, neben den beiden Hauptstädten Wien und Zürich, acht weitere Städte, von denen sechs in den alten Bundesländern (Köln, München, Dortmund, Bremen, Münster, Frankfurt) und Leipzig und Dresden in den neuen liegen. In allen (nun ja über München lässt sich streiten...) genannten Städten gibt es traditionell eine starke ausser- und antiparlamentarische Linke.
Die bisherige Auswertung betraf die Städte, in denen solche Bewegungsarchive gehäuft auftreten. Wie sieht es nun mit der Situation in der Fläche aus, gibt es flächendeckend Archive sozialer Bewegungen, die eine Form des Zugangs zur Geschichte von politischem Protest und Widerstand sind? Seit der Einführung der neuen Postleitzahlen sind hier Aussagen nicht mehr so leicht zu treffen. Durch Augenschein lässt sich feststellen, dass es Regionen gibt, in denen es (fast) keine solchen Archive gibt. Dies betrifft zum einen eher ländliche Gebiete in den Flächenstaaten (wie Bayern, Saarland, Schleswig Holstein oder Rheinland-Pfalz). In den neuen Ländern ist die Situation gar nicht so schlecht. Für diese Bundesländer ist zu bedenken, dass die Geschichte der Oppositionsbewegungen eine völlig andere ist und die bis zur sog. Wende 1989 auch von staatlichen Stellen stark berücksichtigt wird. Für alle Regionen gilt, dass es sich bei den vorhandenen Archiven oft um monothematische Archive, wie z.B. die für die neuen Bundesländer charakteristischen Umweltbibliotheken handelt, und damit Material zu einem bestimmten Teilbereich zur Verfügung steht.
In den Städten ist die Situation erwartungsgemäß besser: In der BRD gibt es insgesamt 39 Städte mit mehr als 200000 EinwohnerInnen, die hier als Großstädte bezeichnet werden sollen. Nur in drei von ihnen gibt es kein Archiv sozialer Bewegungen (Gelsenkirchen, Lübeck und Mannheim), in weiteren drei (Braunschweig, Karlsruhe und Rostock) "nur" eine Umweltbibliothek. In 36 dieser Großstädte gibt es ein oder mehrere Archive.

(1) Bernd Hüttner: Archive von unten. Bibliotheken und Archive der neuen sozialen Bewegungen und ihre Bestände, Neu-Ulm AG SPAK Verlag, 2003, 178 S. 15 EUR, (www.leibi.de/archive), vgl. die Besprechung in Contraste Januar 2004. Mit dem Begriff Archiv werden, wie auch im Buch, Bibliotheken mitgemeint.
(2) Ebenda, S. 137-142
(3) Es entstand 1983 und sammelt Dokumente von Gruppen und Initiativen aus der Stadt und Region Köln, die sich zur politischen, sozialen oder kulturellen Opposition zählen. Kontakt: Martin Stankowski, An der Bottmühle 6, 50678 Köln. Das Material lagert im Historischen Archiv der Stadt Köln und ist dort zugänglich (Tel. 0221-22122329). Das Köln-Archiv ist eines der wenigen Archive sozialer Bewegungen, zu dem ein ausführliches und preiswertes Findbuch vorliegt: Rudolf Kahlfeld, Protest in Köln, Köln/Weimar/Wien 1999, 298 S., 10 EUR. Dieses Findbuch zeigt sehr deutlich, wie breit die Thematiken sind, die von neuen sozialen Bewegungen in einer Großstadt bearbeitet wurden
.


Veröffentlicht in Contraste März 2004.


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